Gab es jemals ein ‚goldenes Zeitalter‘ der Kirchenmusik? Von Frank Uwe Liefländer

Frank Uwe Liefländer
4 min readNov 24, 2022

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Ich sitze als Organist in einer Schulmesse im Juli, nicht sicher warum. Einer der Lehrer hat seine Gitarre gezückt, und schrammt mit lauter, aber verstimmter Sicherheit in das Mikrofon. Keiner außer ihr singt mit, und in Verzweiflung über die Apathie der Schüler gibt es nur eine Lösung: noch härter Schrammen und Vorsingen.

Meine Hauptrolle in dem Ganzen ist, so finde ich heraus, ein Schluss Spiel ertönen zu lassen, damit der Lärm beim Herausschlurfen am Ende überdeckt wird.

Während dieser Messe habe ich viel Zeit zum Nachdenken: Ist das jetzt alles, was von Kirchenmusik übriggeblieben ist? Seit ungefähr 50 Jahren wurden keine Kinder mehr dem Noblen, Schönen und Erhabenen ausgesetzt (theologisch wie musikalisch). Die Ergebnisse waren schon vor 20 Jahren klar, als ich einen Anruf von einem Witwer für die Beerdigung seiner Frau erhielt: „Ich bräuchte einen Organisten, der eine traditionelle Beerdigung spielt“.

„Da sind Sie bei mir richtig. Ich könnte mit dem Gregorianischen „Reqiem aeternam“ anfangen, und dann fürs Kyrie……“ „Nein, nein“, unterbrach er mich besorgt, “ich meinte mit Gitarre und so, eben was Traditionelles….“.

War es früher besser? Wann war denn das ‚Goldene Zeitalter‘ der Kirchenmusik? Mozart, Bach, Palestrina, Messian? Hatten die es besser?

Jetzt muß ich erst mal etwas weiter ausholen:

1) Die Fähigkeiten der Interpreten vor dem 20. Jahrhundert waren aus unserer heutigen Sicht SEHR begrenzt. Zu Händels Zeiten arbeiteten seine Orchesterspieler am Hof des King George untertags als königlichen Gärtner. D.h., Violinisten, die Schwielen an den Händen hatten, konnten nur mit ungefährer Intonation spielen. Das könnte ein ziemliches Katzengejaule ergeben haben. Zeitgenössische Blasinstrumente waren fast unmöglich in guter Intonation und ohne Gekiekse zu spielen.

2) Zu Bachs Zeiten war man nicht ein Organist, sondern ein Orgelklopfer. Bei mehreren gezogenen Registern wurde die Tastatur so schwer, daß man nur noch mit karateartigem „Geklopfe“ eine Taste herunterdrücken konnte. Die Auswirkungen auf Tempi, Phrasierung etc. kann man sich heute nur schaudernd vorstellen.

3) Der Standart der Spieler waren aus unserer Sicht sehr schlecht, ob Klavier auf dem oder anderen Tasteninstrumenten, Bläser oder Streicher. Das hat sich im 20. Jahrhundert entscheidend verbessert. Als ich mich 1980 bei verschiedenen Institutionen als Musikstudent bewarb, wurde mir erzählt, dass „heutzutage“ die Erwartungen für einen Studienanfänger ungefähr dieselben seien wie die für die Abschlussprüfungen vor 20 Jahren. Wenn man eine alte Aufnahme aus Berlin hört, merkt man, daß viele Laienorchester heutzutage besser sind als Profiorchester damals.

Hörbeispiel:

Beethoven Symphony n.5 — Friedrich Kark — Odeon Symphony Orchestra, Berlin 1910: https://www.youtube.com/watch?v=cjqybFAGGcs

Eine kleine Zwischenwarnung: Wir dürfen nicht die Sünde des „Presentismus“ begehen, ein Urteil über die Vergangenheit aus heutiger Sicht zu fällen: Genies ihrer Zeit bleiben Genies, Schurken bleiben Schurken. So sollte man Methoden der Kindererziehung von vor 50 Jahren nicht verurteilen, weil die sich inzwischen sehr (zum Positiven) verändert haben.

Und nun schauen wir mal kirchenspezifisch auf die Realitäten

Während das Agnus Dei laut geschrammelt wird (Friede, Friede, Friede….), schweben mir die Worte Pius‘ X. aus der Einleitung seines Motu Proprio von 1903 über die Kirchenmusik in meinem Kopf herum:

“……Im Tempel darf daher nichts geschehen, was die Frömmigkeit und Frömmigkeit der Gläubigen stört, oder auch nur schmälert, nichts, was vernünftigen Anlass zu Abscheu oder Skandal gibt, nichts vor allem, was den Anstand und die Heiligkeit heiliger Funktionen direkt verletzt und des Hauses des Gebets und der Majestät Gottes unwürdig ist.”

Er beschwert sich auch, dass in unseren Kirchen jetzt (1903) so schmalzige und unwürdige Arien schlecht und sentimental vorgetragen werden, wie sie nicht einmal in den schlechtesten, 3-rängigen Theaterhäusern erklingen würden.

Da solche Entwicklungen 50 Jahre brauchen, können wir große Teile des 19. Jahrhunderts in Sachen Qualität schon mal ausschließen.

Kompositionen

Hier strahlt die ewige Kirche. Von Josquin de Prez über Palestrina zu Vivaldi zu Bach, Mozart, Haydn, Schubert, Camille Saint-Saëns, Reger, Olivier Messiaen, vielleicht auch noch Avo Pärt … hier leuchtet der Heilige Geist mit seinen göttlichen Inspirationen.

Aber wie oft wurden sie damals benutzt?

Im Normalfall wurden Messen von reichen Patronen in Auftrag gegeben, und an nur einer Kirche einmal zum gegebenen Anlass aufgeführt. Die große Ausnahme war Bach, der fast jeden Sonntag seine Kantaten aufführte. Aber 99% aller Kirchen hatten keinen oder nur einen schlechten Organisten, gute Kompositionen waren wegen Armut und Isolation nicht erhältlich.

Die schönsten und prunkvollsten Kirchen hatten eine Orgel die wunderbar aussah, aber was sich in den Orgelkästen befand war oft sehr ärmlich gebaut.

Wie sieht es heute aus?

Viele Kirchen in Europa haben gute Orgeln mit neuester, leicht spielbarer Mechanik. Es gibt Dutzende großartiger Orgeln, die von wahren Künstlern gespielt werden. Viele Kirchen, darunter auch kleinere, haben mindestens einmal im Jahr eine Orchestermesse, mit viel besseren Profispielern als damals besetzt. Auch gibt es viel mehr Profikirchenmusiker als jemals.

Ich wage sogar zu sagen, dass 90% aller Kirchenmusiker in der Weltgeschichte heute leben. Ich kann zwar dafür keine Statistik finden, aber es scheint so bei Wissenschaftlern zu sein:

90% of All the Scientists That Ever Lived Are Alive Today Link:

https://futureoflife.org/guest-post/90-of-all-the-scientists-that-ever-lived-are-alive-today/

Jetzt ist Schlußsegen, sowie der Pfarrer verschwindet geht ein lautes Raunen durch die Reihe., Das ist mein Signal: Ich ziehe viele Register, und spiele Händels „Zadok the priest“ zum Ausgang. Wenn ich es recht bedenke ist ja vielleicht doch nicht so schlimm um die Kirchenmusik bestellt. Vielleicht ist das goldene Zeitalter sogar jetzt?

Über Frank Uwe Liefländer

Frank Uwe Liefländer arbeitet seit 35 Jahren als Dirigent und Kirchenmusiker. Im Anschluss an sein Studium am Royal Conservatory of Music / Toronto nahm der gebürtige Göttinger eine Assistenzprofessur für Kirchenmusik an der St. Paul University Ottawa an. Im Jahr 2018 hat Frank Uwe Lieferländer seinen Lebensmittelpunkt von Kanada wieder nach Deutschland verlegt und ist seitdem als hauptamtlicher Kirchenmusiker in der Diözese Augsburg tätig.

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Frank Uwe Liefländer ist seit 35 Jahren Kirchenmusiker. 2018 war Frank Uwe Liefländer als Kirchenmusiker in der Diözese Augsburg tätig.

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